Vorweg: So wie Juristen Paragraphen umarmen, liebe ich Zahlen (und deshalb natürlich auch Statistiken, wie die EZB-Zahlungsstatistik). Sie liefern im Gegensatz zu Paragraphen eindeutige Ergebnisse, vorausgesetzt die Zahlen sind richtig. Zweitens, es handelt sich hier um eine wahre Geschichte, auch wenn meine Frau behauptet, ich würde öfters Käpt´n Blaubär-Geschichten erzählen.
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Ist Statistik nur etwas für Statisten?
Der Kaufumsatz mit Zahlungskarten, die in der EU von regulierten Payment Service Providern (PSP) herausgegeben wurden, betrug 2017 ca. 3 Billionen Euro. Das ist das Ergebnis der Zahlungsverkehrsstatistik der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Daten müssen per Gesetz von den Kartenherausgebern an die zuständige nationale Zentralbank geliefert werden. Die Zentralbank gibt diese Daten dann an die EZB weiter. In der Regel finden Sie die Länderdaten auf der Website der betreffenden Zentralbank.
Ist die Statistik nur etwas für Statisten, wie der Aphoristiker Peter Rudl frech behauptet? Im Gegenteil, die Länderdaten spielen im Kartengeschäft eine wichtige Rolle. Kartellämter treffen z.B. ihre Entscheidungen bei Firmenfusionen auf Basis von nationalen Marktanteilen. Der Wert eines Acquirers richtet sich in einem M&A-Verfahren auch nach der Entwicklung seines Marktanteils. Das Gleiche gilt für das Gehalt mancher Vertriebler. Ergo: Korrekte Zahlen sind also für die Kartenbranche ziemlich wichtig.
Brexit und die EZB-Zahlungsstatistik
Bald verlassen uns die Briten aus der EU. Das wird nicht nur auf die EU-Statistik eine erhebliche Auswirkung haben. Mit „nur“ 13% der EU-Bevölkerung sollen die 66 Mio. Einwohner 2017 immerhin umgerechnet über 1 Billion Euro Kartenzahlungen generieren. Das entspricht lt. EZB-Statistik aber 35% des europäischen Umsatzes. Im Gegensatz zu den anderen Zentralbanken hat die Bank of England bislang leider keine Zahlen für 2018 geliefert. Lohnt sich der Aufwand im Hinblick auf den Brexit nicht mehr?
Mildernd muss man allerdings sagen, dass die erhitzte Brexit-Diskussionen in der UK zu Fake-Zahlen führt. Nicht nur die Brexit-Befürworter, sondern auch die Gegner versuchen, ihre Position mit Fake-Zahlen zu untermauern. So geistert in der UK-Presse die Behauptung herum, dass die britischen Kartenzahler nach dem Brexit von bösen kartenakzeptierenden kontinentalen Händlern mit Surcharge-Zahlungen in Höhe von 166 Mio. £ über den Tisch gezogen werden (siehe PaySys-Report Ausgabe 9-10 (Dezember 2018); auf Anfrage erhältlich). Urheber dieser Zahl war übrigens die damalige britische Regierung…
Bevor dieser Kartenriese uns nun verlässt, wollen wir uns den britischen Kartenumsatz etwas näher anschauen. Es geht um den Kaufumsatz der von inländischen Banken und anderen PSP ausgegebenen Zahlungskarten (Debit- und Kreditkarten): 936,8 Mrd. £ bzw. 1.068,6 Mrd. € (2017). Wenn man sich die Zahlen aus den Vorjahren in der EZB-Statistik anschaut, fällt einem direkt ein sprunghafter Anstieg im Jahr 2014 auf. In der Statistik 2015 meldete die EZB für das Jahr 2014 606 Mrd. £, heute meldet die gleiche Statistik für dieses Jahr 791 Mrd. £. (siehe Abbildung).
Regelmäßig ändern die Zentralbankstatistiker ihre Daten auf Grund neuer Erkenntnisse rückwirkend, aber bei einem Sprung von 30% stimmt etwas nicht. Die Erklärung dieser Differenz ist ziemlich einfach: Seit 2016 meldet die EZB in dieser Position für die UK nicht nur die Kartenkaufumsätze („sales“), sondern auch die Bargeldabhebungen am Geldautomaten mittels dieser Karten. Nun gibt es eine EU-Verordnung (1409/2013) der Europäischen Zentralbank zur Zahlungsverkehrsstatistik. Dort und in weiteren Begleitdokumenten der EZB steht eindeutig, was diese Position enthalten soll: Nur Kartenzahlungen (ohne ATM-Abhebungen).
Sind Statistiker blinde Hellseher?
Das erste Fazit ist ziemlich ernüchternd: Seit 2016 meldet die EZB falsche Zahlen für die UK rückwirkend für 2014 in Höhe von über 200 Mrd. € (!) pro Jahr. Das entspricht mehr oder weniger dem Kartenumsatz der Belgier und der Schweden zusammen. Der Kartenumsatz der Briten ist also 2017 um fast 20% zu hoch. Bedingt durch das enorme Gewicht dieses Mitgliedstaates ist der Gesamtkartenumsatz der EU um ca. 7% daneben.
Das Bizarre ist: Keiner merkt es. Mir ist es auch nur aufgefallen, weil ich mich in einem Beratungsprojekt etwas näher mit dem britischen Kartenmarkt beschäftigt habe. Noch rätselhafter ist, warum der Urheber der Statistik offensichtlich an die fast identische weltweite Länderzahlungsstatistik der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) dagegen die richtigen Zahlen meldet. Auch die Statistiker der dänischen Nationalbank haben den gleichen Fehler für die Jahre 2015 und 2016 gemacht. Dort schossen die Kartenzahlungen 2016 – ebenfalls durch die fehlerhafte Inklusion der ATM-Abhebungen – um 24% in die Höhe. Es hat zwar etwas Überzeugungsarbeit gekostet, aber die Dänen haben die falschen Zahlen in der 2018-Ausgabe der Statistik rückwirkend korrigiert. Immerhin 12 Mrd. Euro zu viel.
Liebe Statistiker, auch wenn das Kartengeschäft ordentlich brummt, ein derartiger Anstieg der Zahlen in der EZB-Zahlungsstatistik innerhalb eines Jahres muss euch hellhörig machen. Wenn man Marktzahlen erhebt, wovon man inhaltlich keine Ahnung hat, sollte man die Ergebnisse einem vorlegen, der von der Materie etwas versteht. An dem vom Erhard Blanck überlieferten Spruch, „Statistiker sind blinde Hellseher“, ist etwas dran.
Das zweite Fazit: Der Zahlungsstatik der EZB und der Zentralbanken kann man nicht nur blind, sondern auch sehend nicht trauen. Wer sagt denn, dass nur die Dänen und die Briten seit Jahren Fake-Zahlen liefern? Was ist mit den anderen Daten der Kartenstatistik? Die gleiche Sorgfalt? Dann gute Nacht!
Nur der Erfolg hat viele Väter oder: Wer sitzt wie Carl Mørck im Keller?
Das dritte Fazit: Die Kontrollmechanismen (wenn es die überhaupt gibt) versagen. Für die verpflichteten kartenherausgebenden Institute ist die Zählerei eine lästige gesetzliche Verpflichtung, vergleichbar mit meiner Steuererklärung an einem verregneten Wochenende. Auf der Empfängerseite ist deshalb Vertrauen gut, Kontrolle wäre besser. Die Zentralbanken sollten die Daten der Institute auf Plausibilität prüfen und nicht einfach zu einer Gesamtzahl addieren und durchwinken. Die zweite Kontrollstelle müsste die Statistikabteilung der EZB sein, die die Zahlen der nationalen Zentralbanken sammelt. Außerdem sollte an irgendeiner Stelle in dieser Kette wenigstens einer für die Richtigkeit dieser Zahlen geradestehen. Genau die Stelle habe ich wegen der 200-Milliarden-Panne der Briten versucht herauszufinden. Das war „a long and windy road“. Hier die verkürzte, ausdrücklich sinngemäße Wiedergabe der E-Mail-Wegstrecke (Juni-Okt. 2019):
HG an EZB: Ihre Kartenzahlen für die UK sind um 200 Mrd. Euro zu hoch, da ATM-Umsatz enthalten ist.
EZB an HG: Wir können zu der Richtigkeit der britischen Zahlen nichts sagen. Bitte wenden Sie sich an die Bank of England (BoE) als Urheber.
HG an BoE: Ich habe eine Frage zu Ihrem UK-Kartenumsatz, den Sie an die EZB melden. Haben Sie einen Ansprechpartner für mich?
BoE an HG: Wir führen keine Kartenstatistik und melden demnach auch nichts dergleichen an die EZB.
HG an EZB: Die BoE sagt, dass sie gar nicht der Urheber der britischen Zahlen sind. Woher kommen die Daten, die Sie für die UK veröffentlichen?
EZB an HG: Quatsch (sinngemäß), wir bekommen die UK-Daten immer von der BoE.
HG an BoE: Die EZB sagt, Sie sind doch der Urheber der Daten!
BoE an HG: Okay, wir machen uns auf die Suche nach der verantwortlichen Abteilung.
HG an EZB: Können Sie der BoE helfen und mir den Absender des jährlichen Dateninputs mitteilen?
EZB an HG: Die Abteilung, die uns die Daten liefert heißt Department „XYZ“.
HG an BoE: Eine kleine Hilfestellung: Ihre Abteilung, die die Daten an die ECB liefert, heißt Department XYZ.
(Kennen Sie die Krimis des Autors Jussi Adler-Olsen, in denen Carl Mørck, Leiter des Sonderdezernates Q ermittelt? Die kleine, fast vergessene Abteilung von Mørck sitzt verloren in einem Abstellraum im Keller der Kopenhagener Polizei. Befinden sich im Keller des alten ehrwürdigen Gebäudes der Bank of England in der Threadneedle Street nur Goldbarren?)
BoE an HG: Die Kartendaten werden von dem Verband UK Finance (UKF) erstellt und über die BoE an die EZB weitergeleitet. Für inhaltliche Fragen kann ich mich an diesen Verband wenden. Die Website lautet…
HG an UKF: Die von der EZB veröffentlichten Zahlen werden laut der BoE von Ihnen generiert. Ich habe da eine Frage…
UKF an HG: Wir sind nicht der Datenlieferant. Es ist aber durchaus möglich, dass die BoE unsere Daten nutzt. Zu der Korrektheit der von der EZB veröffentlichten Daten können wir deshalb nichts sagen. By the way, Sie können unsere UK-Kartendaten für 3.000 Pfund erwerben…
HG an BoE: Die UKF ist für die korrekte Nutzung deren Daten durch Sie nicht zuständig und gibt mir außerdem keine Einsicht in die Daten. Kann ich meine Frage nun bei Ihnen loswerden? Auch wenn Sie die Daten von UK Finance übernehmen, sind Sie m.E. für die Qualität und inhaltliche Korrektheit der Daten zuständig, oder?
BoE: Okay, stellen Sie bitte Ihre Frage.
HG an BoE: Der von Ihnen an die EZB gemeldete Kartenumsatz ist um ca. 170 Mrd. Pfund zu hoch und enthält vermutlich fälschlicherweise auch die Bargeldabhebungen. Stimmt das?
HG an BoE: Mehrere Emails zur Erinnerung (in einem 14-Tagen-Rhythmus)
BoE an HG: Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass wir nicht alle Fragen zeitnah beantworten können. Übrigens nutzen wir neben der UK Finance auch andere Quellen für unseren Input an die EZB. Es sieht danach aus, dass in einer anderen Quelle die Bargeldzahlungen tatsächlich enthalten waren. Wir werden es überprüfen. Mehr dürfen wir dazu nicht sagen.
Wer haftet, ist auch zuständig?
Okay, der Lieferant haftet also. Nur der Lieferant ist für einen Außenstehenden oft nicht greifbar. So meldet die EZB-Zahlungsstatistik für Italien seit Jahren hartnäckig etwa 4 Millionen „cards on which e-money can be stored directly“.
Gemäß gesetzlicher Vorgaben soll die Position nur Karten enthalten, bei denen das E-Geld-Guthaben als digitales Bargeld dezentral auf der Karte (z. B. im Chip) als Inhaberinstrument gespeichert ist und nicht auf einem Kartenkonto auf einem Server beim Kartenherausgeber. Solche aussterbenden Produkte gibt es in der EU eigentlich nur noch in Deutschland („GeldKarte“). In Italien gibt es diese Karten in Millionenhöhe definitiv nicht.
Das gleiche Spielchen noch mal: EZB kann zu diesem angeblichen Fehler nichts sagen und verweist auf die Banca d´Italia. Die statistische Abteilung, die für diese Zahlen zuständig ist, verweist auf den Inputgeber (offensichtlich ein italienischer Prepaid-Kartenherausgeber), der diese Zahlen meldet. Warum – so antworten mir die Statistiker der Banca d´Italia – sollte man diese Daten in Frage stellen? Die Verantwortung liege bei dem jeweiligen Kartenherausgeber. Wir müssen seinen Input einfach glauben. Meine Antwort, dass es solche Karten in Italien schon längst nicht mehr gibt, hinterlässt Gleichgültigkeit. Den Datenlieferanten darf der Statistiker mir nicht nennen. Meine Frage, um welches konkrete Produkt es sich dann wenigstens handelt, das 4 Mio. Italiener angeblich nutzen, bleibt unbeantwortet. Fazit: Diese Daten in der EZB-Statistik sind seit Jahren falsch und keiner fühlt sich zuständig, weder die EZB noch die italienische Zentralbank trotz des Hinweises, dass hier ein Millionen-Fehler vorliegt.
Was bringt eigentlich eine EU-Verordnung der EZB zur Zahlungsverkehrsstatistik, wenn es keinen interessiert, geschweige jemand kontrolliert, ob die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden?
Falsche Daten führen zu falschen Hypothesen. Immerhin glaubt wenigstens die EZB selbst an die Richtigkeit „ihrer“ Daten und leitet daraus politische Empfehlungen ab, wie z.B. vor einigen Monaten die Notwendigkeit eines europäischen kartenbasierten Kartenzahlungsverfahrens. Ihr Argument, die nationalen Kartensysteme würden in der EU gegenüber den internationalen „Schemes“ in den letzten Jahren erhebliche Marktanteile verlieren, steht auf sehr wackligen statistischen Füßen, nämlich auf ihrer eigenen, nachweislich fehlerhaften Kartenzahlungsstatistik.
Vorsicht: Gelbe Zahlen
Zum Schluss die relativierende gute Nachricht. Eigentlich sind fehlerhafte Abweichungen von bis zu 30% der statistischen „Wahrheit“ noch in einem vertretbaren Rahmen. Es kann noch viel schlimmer kommen. So berichtet die BIS-Zahlungsstatistik, auf Basis des Inputs der chinesischen Zentralbank, seit Jahren, dass die Chinesen pro Jahr ungefähr das Achtfache (!) des gesamten chinesischen Bruttoinlandsprodukts über Karten- und E-Geldzahlungen auf den Kopf hauen (siehe Abbildung). Sorry, aber da steige ich als Volkswirt definitiv aus. Big Data führt sogar im Überwachungskapitalismus irgendwie noch nicht zu brauchbaren Ergebnissen.
P.S.: Sobald meine E-Mail an die People´s Bank of China irgendwann beantwortet wird, werde ich natürlich darüber berichten, wenn ich nicht vorher im Umerziehungslager für statistische Querulanten lande. 🙂
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